Jugendtil-Stuhl im neuen Glanz
Unsere Verleih-Kollektion wird mit einem schönen "neuen" Stück bereichert. Diesen Jugendstil-Stuhl, bzw. das was davon aus den alten glanzvollen Tagen übrigblieb, habe ich auf einem Flohmarkt von einem Restaurateur günstig erworben. Im Nachhinein ist es mir klar warum der Restaurateur den Stuhl loswerden wollte. Es kostete mich sehr viel Arbeitszeit, diesen Stuhl herzurichten. Von einigen Flohmarktbesuchern wurde ich um das schöne Stück beneidet. Wenn sie damals nur gewusst hätten was ich mir damit aufbürdete, wären sie jetzt nicht so neidisch gewesen. Den Geschichten, dass eine Restaurierung und Bepolsterung eines alten Stuhls so einfach easy-peasy nebenbei geht, glaube ich nicht mehr.


Nun gut, jammern hilft nicht. Zuerst analysierte ich, ob ich den Stuhl in die professionelle Restaurierung gebe oder mich selbst daran versuche.
Nach der schriftlichen Aussage einer Expertin (Diplom-Restaurateurin) aus Frankfurt handelt es sich "um einen Stuhl aus dem späten 19. Jahrhundert oder frühem 20. Jahrhundert". Meine weitere Recherche ergab, dass dieser Stuhl genau genommen ein Gründerzeit-Stuhl ist, weil die Polsterfläche nicht direkt mit Stuhlrahmen abschließt, sondern das Holz eine Art Umrahmung für die Polsterfläche darstellt. Hinzugefügt war die Bemerkung der Expertin, dass sich "die Restaurierung kaum lohnt". Von daher durfte ich getrost nach dem Motto vorgehen: "aus alt mach neu".
Nach der derzeitigen Kunstauffassung heißt Restaurieren gebrauchsfähig zu machen, keinesfalls aber ein Möbel wie neu erscheinen zu lassen. Das Alter soll respektiert werden.
Ich betreibe mal das, was die Spezialisten als "Zerrestaurieren" bezeichnen. D.h. das Möbelstück so zu erneuern, dass das Alter des Möbels fast unsichtbar wird.


Zuerst musste ich die alte Polsterung abziehen, um an den Stuhlrahmen zu kommen.
Sinnvoll erweist es sich bei solchen Restaurierungsprojekten, alle Schritte fotografisch zu dokumentieren. Ich vergesse alle Details sehr gern und sehr schnell. Die Fotos halfen mir später, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen.






Beim Auseinanderbauen stellte ich fest, dass dieser Stuhl bereits einmal neu-bepolstert wurde. Darunter konnte ich ein Stück alten Stoffs finden. Ein echtes Jugendstil-Prachtstück. Aufheben werde ich es nicht, aber zumindest ein Foto machen. Meine größte Sorge war, dass der Stuhl, sobald ich anfange, den alten Lack abzuschleifen, auseinanderfallen könnte. Dann wäre die ganze Mühe umsonst.


So sah der Stuhl nach einem Tag Abschleifen aus. Ein "Shabby-Chic"-Anhänger würde jetzt Juhu schreien und den Stuhl einfach mit einem durchsichtigen Lack überlackieren. . Ich nicht. Ich sage: "Der Lack muss ab, und zwar komplett!" Alles was nicht abgeht wird uns später daran hindern, ein gutes Lackierungsergebnis zu erzielen.
Nach dem Studium verschiedener Restaurierungsbücher stellte ich fest, dass es sich sehr wahrscheinlich um das Holz einer Esche handelt. Esche ist ein Laubbaum und gehört zur Klasse Harthölzer, also ausgesprochen robust und zäh. Dank der dicken Lackschicht ist das Holz hervorragend erhalten.
Nach mehreren Stunden des Abschleifens (glücklicherweise habe ich ein Abschleifgerät von Bosch, mit dem ich rundum glücklich bin) mit dem Schleifpapier 40, 80 und 120 war dann der Lack ab.
Zunächst ging es ans Lackieren und dann an das Verschönern mit dem Goldlack, den ich mit Zugabe des weißen Lacks etwas dämpfte, damit er nicht zu kitschig goldig wirkt. Nach zwei Tagen war der Lack ausgehärtet und so konnte die Polsterung losgehen. Ich habe bereits gesehen wie solche Stühle mit der Einsteck-Brett-Methode "verschandelt" wurden. Diese Methode funktioniert so: es wird ein passendes Brett ausgesägt, darauf wird Vliesschaum geklebt und das Ganze mit Polsterstoff überzogen, wobei Polsterstoff auf der unsichtbaren Rückseite mit Nägeln festgemacht wird. Die Methode ist relativ einfach, eignet sich jedoch nur für Stuhle, die einen tiefen Einsteckrahmen haben (ab ca. 4cm). Dieser Stuhl hat einen Einsteckrahmen von gerade mal 2cm und würde bei der Polsterung mit dieser Einsteck-Brett-Methode nicht so gut aussehen.
Von daher müssen wir hier so genannte flachpolster-Methode anwenden.
Zuerst musste ich eine Sitzfläche mit Gurten (und nicht mit einem Brett) herstellen. Diese Gurte werden so straff gespannt, dass sie fast wie ein Brett wirken. Dafür benötige ich einen Gurtspanner und einen Tacker.
Die meisten Anfänger-Projekte scheitern oder kommen zu keinem guten Ergebnis, weil man kein geeignetes Werkzeug hat. Deshalb war es mir wichtig, einen Tacker eines renommierten Herstellers zu haben. Mit Bosch-Produkten habe ich immer sehr gute Erfahrungen gemacht. Mein Schleifgerät ist ja auch von Bosch. Ich fuhr deshalb zu einem 20km entfernten Bauhaus, weil der Baumarkt direkt in der Nähe ein sehr beschränktes Angebot hatte. Online wollte ich nichts kaufen. Zum Baumarkt hinzufahren hat sich als sehr sinnvoll erwiesen. Ich hatte ursprünglich einen Akku-Tacker im Sinn. Auf der Verpackung eines solchen war auch eine fröhliche Frau abgebildet, die gerade ein Polsterprojekt in Angriff nahm, so dass ich glaubte, ein richtiges Werkzeug in der Hand hatte. Glücklicherweise wurde ein Verkaufsberater von sich aus auf mich aufmerksam, wir kamen ins Gespräch und es stellte sich heraus, dass ein Akku-Tacker für meine Zwecke nicht ausreichen würde, weil mein Stuhlrahmen aus Hartholz ist. Deshalb war ein Tacker mit einem Elektrostromanschluss eine richtige Wahl für mich. Sogar mit diesem brauchte einiges an Muskelkraft, um die Klammern ordentlich hinein zu bekommen. Mit meinem Bosch PTK 14 EDT war ich außerordentlich zufrieden. Ein Akku-Tacker würde sich nur für Möbel aus Weichholz oder Spannplatten eignen.
Also, die Gurte müssen zuerst an einem Seite festgetackert und am anderen Ende sollten sie mit einem Gurtspanner sehr straffgezogen und dann auch festgetackert werden. Das macht man überkreuz, so dass eine stabile Sitzfläche entsteht.



Danach kommt ein Juteleinen (mit der Dichte 365g/qm) darauf, der auch festgetackert wird.
Als Polsterstoff kann man natürlich Schaumplatten aus dem Baumarkt verwendet. Ich wollte aber lieber natürliche Materialien verwenden und entschied mich für eine robuste Kokos-Latex-Polstermatte (ca. 4cm hoch). Darüber kommt graue Polsterwatte, um die Sitzfläche weich zu machen. Und zum Schluss wird das Ganze mit einem weißen Spann-Nesselstoff überzogen und auch festgetackert.




Danach wird ein Stück Polsterstoff passend (auf die ausreichende Größe mit Zugabe, je nach der Höhe des Polstermaterials, von etwa 4cm achten) ausgeschnitten, und festgenagelt oder festgetackert. Ich habe es festgenagelt, aber im Nachhinein kann ich sagen, dass das Festtackern die bessere Lösung gewesen wäre, weil es zu einem wesentlich leichter ist und zum anderen ist das Aussehen nicht so wichtig ist, wenn man vorhat, eine Borte anzubringen. Die Tackerklammern werden mit der Borte ohnehin verdeckt.
Für die Sitzlehne (die ja eine gebogene Form hat) habe ich ein Stück Karton ausgeschnitten: es muss biegsam genug sein, damit es keine Knicke gibt. Der Karton wird mit Textilkleber bestrichen, der Kleber kurz abgelüftet (d.h. kurz in der Luft wedeln), der Polsterstoff darauf gelegt und festgekloppft. Der Karton wird umgedreht, der Rand mit Kleber bestrichen und die Stoffzugabe gefaltet und festgekloppft. Das Ganze sollte mindestens 24 Stunden lang trocknen. Danach kann dieser erste Teil der Sitzlehne festgetackert werden.


Weiter geht man wie bei der Sitzfläche vor: eine etwas dünnere (ca. 2cm) Kokos-Latex-Matte und Polsterwatte darauf mit einem Spray-Kleber befestigen. Auf der Sitzfläche habe ich es nicht getan. Hier aber mache ich es, um das Abrutschen zu verhindern. Wieder mit dem weißen Nesselstoff überziehen und den Polsterstoff festtackern. Ganz zum Schluss wird eine passende Zierborte mit Ziernägeln festgenagelt.
Der Stuhl steht nun zum Ausleihen bereit.
Zum Schluss möchte ich mich bei allen bedanken, die mich mit Beratung und viel Geduld bei meinem Projekt unterstützt haben:
- * Einrichtungshaus Windhäuser in Bad Vilbel (www.kreativer-wohnen.de): dort habe ich den Polsterstoff bestellt, und zwar heute ausgesucht, am nächsten Tag wurde der Stoff per UPS zugestellt.
- * Gewandschneiderei Avalon in Reichelsheim/Wetterau (www.diegewandschneidervonavalon.de): von dort habe ich die schöne Zierborte her. Außerdem kann man hier viele herrliche Stoffe (unter anderem Brokat-Stoffe) ansehen und kaufen.
- * Polstereibedarf-Online: da kommen alle Polstermaterialien (so zu sagen das Innenleben des Stuhls) her.
- * Bauhaus in Hanau: hier habe ich den Tacker von Bosch, kleine "goldene" Nägel und Lackpinsel gekauft.
- * Hagebaumarkt Hack in Nidderau: von dort habe ich die schönen Polsternägel her,die das Ergebnis aus meiner Sicht perfekt gemacht haben.
Und das sind die Bücher, die ich neben Internet bemüht habe, um den Stuhl herzurichten:
- * Gut gepolstert: Ideen und Anleitungen zum Polstern eigener Möbel, ISBN 325806847X,
- * Antiquitäten pflegen und restaurieren, ISBN 3800178141,
- * Möbel-Restaurierung selbstgemacht - Eine Anleitung in rund 1000 Bildern, ISBN 3762526338,
- * Aus Alt mach Neu, ISBN 3828923887,
- * Möbel restaurieren, ISBN 3806823855,
- * Möbel restaurieren, ISBN 3473425346.